Sie liebten & sie schlugen mich

Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole – ich schreibe immer noch an einem Roman. Signifikanteste Begleiterscheinung meiner Schreiberei ist die damit einhergehende Eremitage, räumlich und innerlich. Geschrieben, nachgedacht fürs und übers Geschriebene wird allein. Die meisten, direkten Menschkontakte bieten mir öffentliche Verkehrsmittel – in guten, wie in schlechten Zeiten.

So stieg ich denn eines schönen Tages aus der einen U-Bahn, um die andere zu erwischen, was den Wechsel des Stockwerks mit sich brachte. Die Rolltreppe sollte mich transportieren, um rechtzeitig den Friseur zu erreichen. Es war eine, die ihre Richtung wechselte, also entweder nach oben oder unten fuhr. Gerade im Anmarsch sah ich die Stufen langsamer werden und machte einen beherzten Sprung, um das Ding wieder in Richtung oben anzuschieben. Als ich so hochfuhr, ganz stolz auf meine sportliche Leistung und die gewonnenen Minuten, sah ich flüchtig einen Mann im Kapuzenpulli stehen. Weder groß noch klein, weder jung noch alt, das Gesicht in der Kapuze verborgen. Ich fuhr dem Nichtssagenden entgegen, als er sich plötzlich in einen zornig Schreienden verwandelte. „Du Verbrecherin!“ schrie er außer sich, „Du Verbrecherin!“ und ehe ich mich versah und überhaupt kapierte, dass die Beschimpfung für mich gedacht war, kam ich auch schon oben, beim jüngsten Verkehrsgericht, an. Die gerechte Strafe für ein Vergehen, von dem ich nicht wusste, es begangen zu haben? Ein Schlag in die Schulter, beim Vorbeigehen, mit voller Wucht und zornig geballter Faust.

Dann erst wurde mir klar: ich war die Verbrecherin. Mein Verbrechen? Das Wegschnappen einer Rolltreppenfahrt nach unten. Perplex ging ich ein kleines Stück weiter, innerer Aufruhr machte sich breit und es mussten Worte zur Verteidigung gefunden werden. Die Guten, Fleischigen waren momentan anscheinend auf einem Betriebsausflug, also blieb mir nichts anderes, als empört aufs stümperhafte Restkontingent zurückzugreifen und so brüllte ich „Du blöder, alter Mann“ – ein verbales Armutszeugnis für jemanden, der im Alltag jede Nuance des Schimpfwort-Tourettes beherrscht. Der Typ war dementsprechend unbeeindruckt und ich nahm mir vor, künftig immer einen kleinen Schimpf-Spickzettel im Täschchen zu tragen.

Das Erlebte setzte mir zu und es fiel vorerst schwer, mich im Nahverkehr nicht komplett zu verschließen oder gar zu verbittern. So saß ich mutig ein paar Tage später in einer Straßenbahn, auf dem Weg zu den paar Freunden, die mir geblieben waren. Direkt an der Türe sitzend, sah ich einer Frau mit Stock dabei zu, wie sie ihr üppiges Äußeres im farbenfrohen Poncho Richtung Bahn wuchtete und am Haltegriff meiner Türe zerrte. Die Maske war vor lauter einbeiniger Anstrengung verrutscht, ihr papageienfarbenes Augen Make-up ebenso. Ohne lange nachzudenken, fragte ich, ob sie sich hinsetzen wolle. Mit rauchfreudiger Reibeisenstimme entgegnete die Dame „ja und was machst Du dann?“. Gute Frage, die ich flink mit „ich steh oder setz mich woanders hin“ beantwortete, weil ausnahmsweise meine Reaktionsfähigkeit funktionierte. Ich überließ ihr ohne weiteres Tamtam den Stuhl, sie setzte sich und als ich, einen freien Sitzplatz suchend, nach hinten ging, feuerte sie mir ein viel zu lautes und reibeisiges „Danke, Schatzi!“ hinterher, mit dem ich eindeutig und für alle hörbar die Heldin dieser Straßenbahnfahrt wurde.

Mein Glauben ans Gute im Menschen ist nun für einen Moment wieder hergestellt. Ich fürchte mich nicht mehr vor Faustkämpfen, hoffe aber doch inständig, dass der Roman bald fertig ist. Hochfrequente Menschkontakte außerhalb von Bus und Bahn – eine verheißungsvolle Vision für mein künftiges Leben!