Es ist irgendwann vormittags, habe das Zeitgefühl auf der Reise verloren. Drei Wochen schleppte ich einen Rucksack, so schwer wie meine Großmutter, durch Irland, Wales und Schottland. Gestern wurde er dann für einen Nacht in Frankfurt abgestellt, wo ich in traumlosem Schlaf von den Strapazen der Reise zehrte, auf der ich mich nun final noch nach München tragen muss. Dumpf und kraftlos spüre ich meine Arme nur spärlich, weil die Träger meiner Reisegeißel mit satten 60 Kilo die Blutzirkulation final zu unterbrechen versuchen. Fetzen von Urlaubserinnerungen mischen sich mit den Anforderungen der Weiterfahrt zu einem Gedankenbrei, der mir das Hirn verstopft.
Ein letzter Tatendrang bäumt sich auf und das Gepäckstück schlingert mit mir in Richtung Straße. Bergen Enkheim heißt der äußerste Bezirk Frankfurts, von dem aus ich mich in Richtung Bahnhof schieben werde. Ein Schritt nach dem anderen durch ländliche Vorortstraßen, die so gar nicht nach Weltmetropole aussehen. Während ich mich selbst anfeuere, auch noch die letzte Etappe des Marsches in Richtung Heimat zu schaffen, trifft mich ein Blick. Glatzköpfiger, großer Mann in Shorts und Latschen auf der anderen Straßenseite starrt. Glotzt so dreist, dass ich befürchte meine ist Nase verrutscht oder Vögel bauten auf meinem Kopf ein Nest. Ich glotze zurück, worauf er ertappt und etwas trotzig ruft „man wird ja wohl noch schauen dürfen!“. Während ich darüber nachdenke, was der große Typ so alles darf oder aber auch nicht, rutscht er mit seinem Latschen leicht schräg auf dem Rand des Gehwegs ab, rudert und macht einen Schritt ins Leere. Mitten in meinem schadenfrohen Glucksen, kippt der Rucksack leicht zur Seite, meine Gewichtung verlagert sich, ich trete leicht schräg auf den Rand des Gehwegs, rutsche ab, rudere und laufe ins Leere. Während sich unsere Blicke im freien Fall kreuzen, müssen wir beide lachen. Wie ein kleiner Käfer, der auf den Rücken gefallen ist, zappele ich mich wieder in die Senkrechte. Der Mann ist verschwunden.
Schon nicht mehr so wackersteinschwer, der wieder nahenden Monotonie eines geregelten Lebens trotzend, biege ich um die Ecke der Vorstadtstraße und erreiche endlich, hinter einer Baugrube, die Behelfshaltestelle. Um nicht wieder umzufallen, lehne ich den geschulterten Kindersarg an eine Hausmauer und drücke mich feste dagegen. Wichtig bei dieser bereits erprobten Position ist es, die Statik keinesfalls zu verändern und regungslos lehnen zu bleiben. In einer Art Reisetrance, die gar nicht mehr aufhören will, beobachte ich durch halbgeschlossene Lider, wie meine Mitreisenden in Richtung Innenstadt eintrudeln. Ein dünner Mann mit einem Gesicht, das ein bisschen dem eines Pferdes ähnelt, stellt sich neben mich. Ich drehe leicht den Kopf und schaue in die schönsten Augen, die ich jemals gesehen habe. Riesig und dicht bewimpert stehen sie ganz eng beieinander und schauen voller Güte in Rehbraun auf die Welt, Sommersprossen bevölkern das ganze Gesicht. Wie ein Pony aus dem Märchen fängt der dünne Mann an zu tänzeln und ich bemerke viel zu kleine Schuhe, die wie Hufe aussehen. Er tippelt im Wiegeschritt und fängt an die Autos mit seinen feinen, kleinen, sommerbesprossten Händen um die Baustelle zu dirigieren. Keiner nimmt ihm etwas krumm, alle lächeln und lassen sich umleiten, während er ein kleines, zufriedenes Wiehern ausstößt. Bei näherer Betrachtung bemerke ich, dass die Hufschuhe in schwarz, weiß, rot gehalten und auf der Außenseite mit dem Emblem von Eintracht Frankfurt verziert sind.
Ein weiterer Fahrgast schiebt sich neben mich und den Pferdemann. Er ist groß und massiv mit sehr viel, sehr dunkler Körperbehaarung, die man gut sehen kann, zumal er eine extrem kurze Jeanshose trägt. Die wird begleitet von einem türkisen Netzshirt und Turnschuhen, die vermutlich auch als Schlafgelegenheit für mittelgroße Kinder funktionieren würden. Ich will mich jetzt und sofort hineinlegen. An seinem dicht behaarten Riesenhals hängt eine schwarze, glitzernde Perlenkette, die ihm bis zum Hosenbund baumelt. Bei vorsichtigem, näherem Hinschielen sehe ich das Kruzifix an der Perlenkette, die final als katholischer Rosenkranz um seine Taille baumelt. Verlagere das Rucksackgewicht nun doch, um besser sehen zu können und entdecke eine Tätowierung auf seinem Nacken. Ein feuerroter Frauenkussmund prangt unterm haarigen Ohr und ich muss an Madonna in den 90ern denken.
Ein Riese mit Rosenkranz lehnt neben dem tänzelnden Pferdemann in seinen Eintracht-Frankfurt-Hufschuhen und mir, wir warten auf den Bus. Als er kommt, steige ich ein, wuchte den Rucksack auf einen Sitz und suche nach meiner Begleitung – vergebens.