Arrivederci & Avanti Popolo – ein Abschied

7 Uhr 58 am Morgen in Italien auf einer Terrasse mit Blick auf den See. Tauben liefern sich ein manisch gurrendendes Wunschkonzert, das ich mir keinesfalls und niemals so gewünscht habe. Wie jeden Tag nach dem Aufwachen, an dem immer die hyperaktiven Tauben beteiligt sind, wünsche ich mir ein Luftgewehr. Das atemberaubende Panorama entschädigt mich für alles, auch die niederschmetternde Gewissheit, dass mir ca. 3 Stunden bleiben, um das Schauspiel zu genießen. Ab 11 Uhr schmeißt hier jemand die Heizstrahler an und man ist nur noch durch verdunkelten Einschluss vor der Kernschmelze zu retten.

Der letzte Seeblick dieser Art, das letzte Mal auf genau dieser Terrasse, keine Familienurlaube mehr, das Haus wird verkauft. Unzählige Tage und Nächte haben wir hier verbracht, in großer Besetzung mit meiner Mutter samt Mann, allen Brüdern samt Freundinnen oder Frauen und den zugehörigen Kindern saßen wir hier. Haben gestritten, gelacht und uns geärgert – aus Spaß, Langeweile, in vollem Ernst, gegenseitig oder übereinander. Der Lautstärkepegel wurde streckenweise astronomisch und die innerfamiliäre Nächstenliebe teils auch recht strapaziert – in guten wie in schlechten Zeiten.

Jetzt und heute sind wir in der kleinstmöglichen Besetzung angereist, die Mutter und ich. Alle anderen waren auch eingeladen, hatten aber keine Zeit, Familie, Arbeit und andere Verpflichtungen. Die jetzige Urlaubskombo wurde oft erprobt, ist krisenfest und meistens gut. Wenn nicht, kann man unter Tränen und Geschrei daran arbeiten, bis der der gut geölte Mutter-Tochter-Motor wieder anspringt und wir einfach und unbeeindruckt weitermachen. Als heiteres Duett tragen wir uns meist leicht durch unser letztes Mal Lago. So sitzen wir jeden Morgen begeistert bei Massimo auf Plastikstühlen und starren auf einen noch glatten See, während die Italiener um uns herum sich und ihre schöne Sprache inszenieren und höchstwahrscheinlich nur über die Zutaten fürs Mittagessen reden. Wir würden’s nicht wissen, denn für mehr als die morgendliche Getränkebestellung reicht es nicht. Macht aber nix, denn der chronisch grantige Francesco hinterm Tresen lässt uns unnachgiebig jeden Morgen den holprigen Bestellspruch wiederholen, seit Jahren als wär es das erste Mal.

Vierzehn Tage im Haus am See wollen wir alles nochmal genießen und satt an schönen, letzten Eindrücken nach Hause fahren. Wir haben die Rechnung ohne Wehmut gemacht. Wehmut, der Wermuth beim Abschiedsgelage ist schwer zu ertragen, so sehr man auch das Lametta auspackt und alle Traurigkeit dekorieren möchte. Immer wieder und überall leere Stühle, Erinnerungen an den gestorbenen Stiefvater, der Hall vergangener Abende in zu großen Räumen, die nur wir beide versuchen zu füllen. Lokale, Cafes, Bars, Läden, in denen man immer irgendwie und ein kleines bisschen die Absenten vermisst. Den Kellnern dabei zusehen, wie sie zu höflich sind, um nach dem Verstorbenen zu fragen, während wir uns an die Gelage erinnern, wo Tische sich vor Essen und Wein bogen. Eine Ära geht zu Ende, die Epoche muss weiterziehen, keine Zeit mehr. Wir bleiben, um Erinnerungen einzusammeln, die noch rumliegen. Pilgern von Ort zu Ort und lesen kleine Vergangenheitsschnipsel auf, in der Hoffnung, dass sie uns ein bisschen vom vergangenen Leben wiedergeben. Nach anfänglichem Wiederfinden stellt sich bei andauernder Wiederholung die Sehnsucht zum Gruppenbild und reißt das Loch, das man zu kitten versucht, nur noch ein bisschen mehr auf.

Meine Mutter und ich gehen durch eine enge Gasse in Bolsena , vorbei an schnatternden Alten auf ihren Stühlen … vor ein paar Jahren, als wir vollzählig und in größtmöglicher Besetzung hier marschierten, hüpfte ein kleiner Flavio mit seiner Deutschlandfahne vor uns her. Eine sperrige Plastikflagge, geklaut von einem Fußballfan im Cafe Centrale, wo wir kurz vorher das Weltmeisterschaftsspiel verfolgten. Deutschland gewann, der Mann drehte sich im Siegestaumel und mein damals 3-jähriger Neffe stibitzte die urdeutsche Devotionalie. Nach dem Spiel war vor dem Abendessen, also spazierten wir in einer Art Prozession durch eben diese schmale Gasse, unter Beobachtung der schnatternden Alten. Besagter Flavio lebt mit seiner Schwester in Rom, samt meinem Stiefbruder und dessen italienischer Gattin. Semmelblond und blauäugig hüpfte das Kind mit der Deutschlandfahne vor uns her und begann zu singen. Aus vollem Hals und in perfektem Italienisch stimmte er ein, vom deutschen Opa beigebrachtes Lied, an. Ganz stolz trällerte er die italienische Kommunistenhymne „Avanti Popolo“, als wär’s „Hänschen klein“. Mein Stiefvater feixte stolz unter den vorwurfsvollen Blicken der bis dato ahnungslosen Mutter. Hatte er doch dem Enkel heimlich Liedgut aus seiner bewegt, anarchistischen Vergangenheit beigebracht. Sei’s drum, Flavio sang voller Inbrunst mit prall gefüllter Kinderlunge. Das Lied hallte durch die Gasse und die Alten trauten ihren Ohren nicht. Ein blonder Junge, mit Deutschlandfahne, gefolgt von einem Tross an Tedesci sang fehlerfrei ihr Lied vom Kommunismus. Das Kopfsteinpflaster schien ein bisschen nachzugeben unter dem Erstaunen. Sie saßen uns Spalier und fingen nach einem kollektiven, irritierten Moment an stolz zu lächeln. Eine Welle von leisem, italienischem Wohlwollen trug uns zum Restaurant.

In ein paar Stunden werden wir unsere Erinnerungen zurück in die Koffer packen und nach Hause bringen. Dort verkriechen sie sich wieder melancholisch in ihre kleinen Höhlen und entlassen uns in die Freiheit, Neue sammeln.