es ist an der Zeit für persönliche Ansprache, schließlich kennen wir uns ja jetzt auch schon etwas besser und mir fiel gerade auf, dass ich Sie noch nie persönlich angesprochen habe. Falls Sie sich wundern, warum ich schon so lange nichts mehr hier schrieb, lassen Sie sich sagen, es war keine böse Absicht und ich hätte durchaus auch etwas zu sagen gehabt, aber es wollte nicht so recht durch meine Finger in die Tasten fließen. Warum fragen Sie ganz zu Recht, ja früher hat es doch auch geklappt. Ich schreibe gerade an einem Roman und wenn ich mich dann da in die Geschichte reinverschraube, dann dreht sich rein erzähltechnisch sonst so gut wie gar nix mehr. Mehr kann ich nicht verraten.
90 Seiten mussten kürzlich fertiggestellt werden, die dann an eine Frau vom Fach gehen sollten, auch hierzu kann ich leider zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mehr erzählen … Sei’s drum, ich bin nach Berlin in eine verwaiste Wohnung von Freunden gereist, um zu schreiben. Warum muss die Frau da wegfahren? Fragen Sie sich und mich jetzt ganz zu Recht. Ich muss Ihnen schon sagen, seitdem wir in direkter Ansprache verkehren, sind Sie ganz schön neugierig, aber na gut, ich erkläre es ihnen. Sie haben nämlich keine Ahnung, oder vielleicht haben Sie ja doch Ahnung von der „Hausarbeits Prokrastination im ganz normalen Wohnalltag“, die nichts anderes zu tun hat, als sich in zu erledigende Kreativprozesse einzumischen. Wenn ich mich in meinem Habitat, meiner kleinen, nicht pflegeintensiven Zwei-Zimmer-Wohnung aufhalte und mir vornehme zu schreiben, dann biegt die „Hausarbeits Prokrastination im ganz normalen Wohnalltag“ um die Ecke und legt mir eine innerliche To-Do-Liste olympischen Ausmaßes vor. Ganz plötzlich tun sich in der wirklich sauberen Wohnung, Abgründe von Dreck auf. Staubige Parkettzwischenräume öffnen sich anklagend, verkalkte Fliesenränder und Wasserkocher schreien mich verzweifelt an, sie mögen doch bitte umgehend gereinigt werden, weil sonst die eh schon marode Welt in der Sekunde unterginge. Und was mach ich? Sauber. Immer, alles und immer wieder. Und was macht der Roman? Liegt starr und schweigt still.
Also, Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin. Nicht exakt die literarische Ruheoase, die man sich so vorstellt, aber goldrichtig, um der heimhäuslichen Prokrastination zu entgehen. Schlau, wie ich manchmal sein will und weil mich eine leere Wohnung nicht vom Zug abholen kann, steige ich am Südkreuz aus, da bin ich dann am schnellsten in meiner Schreibstube. Schlau bin ich nur bis ich am Gleis stehe, der Zug weiterfährt und die Menschen alle recht erschrocken ausschauen, während sie in Richtung Ausgang hasten. In einer Durchsage erklärt mir Berlin, dass ich leider nicht willkommen bin und mich gefälligst aus dem Bahnhof verpissen soll. Bombenalarm, Großaufgebot Polizei in neongelben Warnwesten und natürlich keine S-Bahnen zum Weitertransport. Apokalypse, Du auch schon wieder hier? Berlin rät mir zu einem der Ersatz- und Notbusse vor dem Bahnhof. Weil aber die BVG mich ausnahmsweise so gar nicht liebt, hat sie 3 Busse für 3000 schlechtgelaunte Transportierwütige zur Verfügung gestellt. Ach Berlin, würde direkt in den nächsten Zug zurück steigen, aber der geht ja nicht wegen … Bombenstimmung also.
300 andere haben auch die gloriose Idee ein Taxi zu nehmen, also wird sich brav in eine Schlange gestellt, die so lange ist, dass sie sich in ihren eigenen Schwanz beißt. Ansonsten will jeder jeden beißen, weil man sich der Vordränglerei bezichtigt. Ich drängel mich nicht vor, sondern bedanke mich bei meiner ehemaligen Heimatstadt fürs Einstandsgeschenk, das wäre doch nicht nötig gewesen. Eine kleine Reisegruppe versucht sich doch vorzudrängeln und die ortsansässig Wartenden werden so sauer, dass sie die partygeilen Spanier einfach nicht einsteigen lassen und stattdessen mich in Richtung Taxi schubsen.
Lasse mich nicht zweimal schubsen und sitze schon drin, bevor eine spanische Faust an die geschlossene Scheibe knallt. Mein vollbärtiger Fahrer mit den noch vollbärtigeren Augenbrauen brüllt in tiefstem Bariton und gebrochenem Deutsch, was Spanier doch für herausragende Arschlöcher sind und dass das in Polen nicht passiert wäre. Quod erat demonstrandum, wie wir aus Lateinien da zu sagen pflegen. Augenscheinlich hat er erstens ein schlechtes Gewissen wegen dem Aggressionsausbruch und zweitens gerade wahrgenommen, dass eine einigermaßen passabel aussehende blonde Frau hinter der speckigen Coronaplastikfolie seines angeranzten Mercedes sitzt. Er reißt sich also am Sicherheitsgurt und gurrt in meine Richtung, wo ich wohl herkomme und wie ich heiße und was ich denn so in Berlin mache. Im Gegenzug und sehr zu meiner großen Freude macht er ein paar Witze auf die Kosten seiner Frau, die mir in der Sekunde schon leidtut und teilt mir mit, dass er während Corona richtig zu saufen angefangen hat, während er eine rote Ampel überfährt und auf Polnisch sein gesamtes Schimpfwortrepertoire aus dem halb geöffneten Fenster feuert. Vorsichtig frage ich nach, ob denn jetzt alles wieder in Ordnung, also abstinent wäre, weil wir doch gerade Pandemiepause hätten. Er nimmt meine Frage sehr ernst, denkt nach und teilt mir mit, dass er von Schnaps auf Wein umgestiegen sei.
Es wird eine lange Fahrt, während der sich verängstigte Schweißrinnsale von meiner Stirn über den Hals in Richtung Brust schlängeln. Mein Fahrer sieht während des Gesprächs immer mal interessiert nach hinten, um unter wütendem Hupen auf die Gegenfahrbahn zu wechseln. Ich überlege fieberhaft, was ich Berlin Schlimmes angetan haben könnte … Die letzten drei Kilometer im Stau, gibt Karel ohne Gott alles. Für den KGB habe er gearbeitet, damals in Polen, russischer Geheimdienst jaja, Freund von Putin sei er gewesen, jaja, deshalb habe man ihn nach Berlin geschickt. Er fängt an mir diverse Foltermethoden aufzuzählen und was für ein harter Hund er damals war, als er abschließend fast eine verschreckte, türkische Großfamilie bei der Zebrastreifenüberquerung platt fährt.
Ich komme schweißgebadet dann doch irgendwann in Neukölln inmitten der anderen Bekloppten an und winke dem psychotischen Berserker linde zum Abschied. Die 90 Seiten werden trotzt allen urbanen Widrigkeiten abgearbeitet und dann fahre ich auch schon wieder ab, schließlich muss die Wohnung dringend geputzt werden.