Das geht mir doch am Arzt vorbei!

Berlin: Clubs, Dark Rooms, mit der Nase auf dem Hinterzimmerboden dem Party-Pulver hinterherrutschen, an fremden Disko-Hoden lutschen? Nein, danke recht schön, reicht schon.

Kultur, Theater, unsägliche Vernissagen mit ältlichen Takelagen auf Loft Etagen? Schnöde geht öde die Welt zugrunde. Gähn.

Hipster-Dosenstechen in schicker elternfinanzierter Understatement-Bedürftigkeit mit Billigbier auf Parkbänken? Ich bin raus. Keimfrei, rein und ministrantensauber. Heilig von hier bis Vatikanstadt. Kein Nikotin, kein Alkohol und keine sonstigen Substanzen besuchen mich zum Zeitvertreib.

Was bleibt? Was hat diese angeblich so pulsierende, vibrierende, fluoreszierende, feuilletonfüllend gefährliche Stadt noch an Amüsement und Pläsier zu bieten? Es sind die Arztbesuche, die das Leben nun zum Strahlen bringen! Ich bin nicht schwerkrank und dies ist keine Abschiedsode. Es ist nur ein weiterer Versuch Berlin in allen Facetten kennenzulernen und die ärgerliche Erkenntnis, dass mein ehemals misshandelter Körper mir das vermeintlich gute Werk mit allerlei Zipperlein dankt. Leider ist ein Umzug mit einem gönnerhaften „Fuck You“ auf den Lippen momentan nicht möglich. Ich lasse ihn also gewähren, den scheuenden und schäumenden Bastard und begebe mich zum Arzt.

So geschehen. Neurologentermin aufgrund eines Migräneanfalls samt Aura, der mich kurzzeitig denken ließ, meine Synapsen spielten die Reise nach Jerusalem und das Großhirn Topfschlagen. Flugs und panisch nach einer geeigneten Website recherchiert. In Frauenzeitschrift-Illustration wurde mir mit allerlei pastelligen Schnörkeln und Mädchen-Comics versichert, dass man sich ganz herzallerliebst jedweden Synapsenverschiebungen und Geisteskrankheiten annehmen würde. Gut.

In der Praxis angekommen, werde ich von so viel Pink empfangen, dass die Panikattacke nur noch eine Schnappatmung weiter wartet. Die menschliche Triade in pinkem Stoff hinterm Counter sorgt für die organisatorische Abwicklung, während sich meine Augen ganz langsam an die rosa Wände gewöhnen. Heiter weiter also in den Warteraum durchs Pastell-Grell.

Sollte sich irgendjemand schon mal gefragt haben, was aus dem Christo für die avon-beratende Hausfrau, der sogenannten Husse, geworden ist: Die wurden alle aufgekauft und als heimelige Überzieher auf jeden einzelnen Stuhl dieses Zimmers gestülpt. Die Farbe nochmals zu erwähnen, spare ich mir. Zur Auflockerung, als Kontrast, aber auch ein wenig provokant sind die Wände abwechselnd mit Bildern von babyblauen Luftballons im Sonnenuntergang und wachrüttelnden Multiple Sklerose Plakaten dekoriert. Das haut rein. Ich warte inmitten von Hussenhausen und erwarte entweder Dr. Hello Kitty oder Krankenhausbarbie.

Es kommt ganz anders und mit säbelbeinigem Stechschritt um die Ecke: Ein Mann gefangen im Körper einer vermutlich ehemals, vielleicht auch immer noch minimalst weiblichen … ja was eigentlich? Eine Mischung aus Pferd und russischer Biathlon Trainerin.

Aber wer so pink im Geiste ist, muss doch auch viel Liebe im Herzen tragen? Nein. Das merke ich spätestens beim Versuch meine Symptome zu erklären, während sie mit ihrem drahtigen Zeigefinger, auf die Tischplatte hämmernd, im Takt skandiert “AUS-RE-DEN-LASS-SSEN“ um mir zu verdeutlichen, wer hier das imaginäre Mikro hält. Weiter geht es ganz tröstlich mit einem versöhnlichen: „Ja, sie haben Migräne mit Aura, aber es gibt Schlimmeres. Weniger jammern und sich damit abfinden. Wenn sie nichts sehen können und die Lähmung beginnt, na dann setzen sie sich irgendwo hin und warten. Is ja noch keiner dran gestorben.“ Wo sind Schwester Barbie und Dr. Kitty wenn man sie braucht? Ich kann nicht nachfragen, die Redeerlaubnis wurde mir entzogen und gewehrsalvenartig entleert sich der heilsame Monolog über mir.

Ganz zum Schluss, als Frau Hussen-Hulk gerade meine rechte Hand zum Abschied zerquetscht, bin ich dran: „Na, dann hau ich mir doch einfach bei der nächsten Migräneattacke die Bratpfanne aufn Kopf, bis es vorbei ist!“. Ab da sind wir wieder ganz dicke, sie bleckt vor lauter Freude die polierten Pferdezähnchen, quietscht wie eine 12-jährige und freut sich, dass ich sie dann doch noch verstanden habe.